Entscheidung des Verfassungsgerichtshofes von Berlin vom 13. Mai 2013 (Az. VerfGH 155/11)

Drei-Prozent-Sperrklausel für die Wahlen zur Bezirksverordnetenversammlung in Berlin verfassungsgemäß – Renaissance von Sperrklauseln im Kommunalwahlrecht mit Hilfe der ,,Verfassungslösung“?

Der Verfassungsgerichtshof von Berlin hat in seinem Urteil vom 13. Mai 2013 Einsprüche im Rahmen einer Wahlprüfungsbeschwerde gegen die Wahl zur Bezirksverordnetenversammlung Tempelhof vom 18. September 2011 zurückgewiesen. Nach dem Urteil ist die in Art. 70 Abs. 2 S. 2 VvB verankerte Drei-Prozent-Sperrklausel für die Berliner Bezirksverordnetenversammlungen mit der Verfassung von Berlin und dem Grundgesetz vereinbar.

Die Drei-Prozent-Sperrklausel: Art. 70 Abs. 2 S. 2 VvB sieht vor, dass bei Wahlen zur Bezirksverordnetenversammlung die Bezirkswahlvorschläge, für die weniger als drei vom Hundert der Stimmen abgegeben werden, keine Berücksichtigung finden. Konkretisiert wird die Drei-Prozent-Hürde in § 22 Abs. 2 Landeswahlgesetz Berlin. Die 1998 in die Verfassung von Berlin eingeführte Klausel löste die ein Jahr vorher für verfassungswidrig befundene, im LWahlG Berlin für die Wahlen zu den Bezirksversammlungen einfachgesetzlich geregelte, Fünf-Prozent-Klausel (vgl. LVerfGE 6, 32) ab. Der Verfassungsgerichtshof stellte damals in seinem Urteil fest, dass die Fünf-Prozent-Klausel nicht mit dem Prinzip der Wahlrechtsgleichheit und dem Recht der politischen Parteien auf Chancengleichheit vereinbar sei. Eine ausführliche Begründung der Einführung des Art. 70 Abs. 2 S. 2 in die Berliner Verfassung fand nicht statt. In dem Gesetzesantrag der Fraktionen von CDU und SPD zur Drei-Prozent-Klausel wird lediglich in zwei Sätzen darauf hingewiesen, dass die Klausel zur Sicherung der Arbeitsfähigkeit der Bezirksverordnetenversammlung angemessen sei. Außerhalb von Berlin existiert mittlerweile nur (wieder) in Hamburg für die kommunale Ebene eine Sperrklausel. In allen anderen Bundesländern sind solche Bestimmungen durch den Gesetzgeber aufgehoben bzw. durch die Landesverfassungsgerichte für verfassungswidrig erklärt worden.

Die Entscheidung des VerfGH von Berlin (VerfGH Berlin, 13.05.2013 – VerfGH 155/11): nach dem Mehrheitsvotum des VerfGH verstoßen die Drei-Prozent-Sperrklauseln nach Art. 70 Abs. 2 S. 2 VvB und § 22 Abs. 2 LWahlG weder gegen die Verfassung von Berlin noch gegen das Grundgesetz.

Das Gericht geht davon aus, dass die Sperrklausel mit dem in Art. 70 Abs. 1 S. 1 VvB festgeschriebenen Grundsatz der Gleichheit der Wahl vereinbar ist. Grundsätzlich kann eine Rechtsnorm durch eine andere Norm nur verletzt werden, wenn diese höherrangig ist und Vorrang besitzt. Im Fall des Art. 70 Abs. 2 S. 2 VvB und des Art. 70 Abs. 1 S. 1 VvB handelt es sich nach Ansicht des Gerichts um gleichrangige Verfassungsnormen. Die Nichtigkeit einer Verfassungsnorm aufgrund eines Verstoßes gegen eine andere Verfassungsnorm könne insoweit nur im Ausnahmefall angenommen werden. Ein solcher Ausnahmefall ist anzunehmen, wenn die Verfassung sichernde Grundentscheidungen missachtet werden. Nach dem VerfGH ist der Grundsatz der Wahlrechtsgleichheit „nicht in allen seinen Ausprägungen absolut und uneinschränkbar“. Die betroffene Erfolgswertgleichheit als Teil des Grundsatzes der Wahlrechtsgleichheit ist aus Sicht des Gerichts nicht als Grundentscheidung der Verfassung einzustufen. Hierbei wird darauf verwiesen, dass sich der Verfassungsgeber nicht auf ein striktes Verhältniswahlrecht festgelegt hat, das den gleichen Erfolgswert aller Stimmen umfangreich garantieren könnte. Zudem wird angeführt, dass „die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts das Gebot der Erfolgswertgleichheit nur auf Verhältniswahlen bezieht, es also nur systemimmanent versteht und nicht aus einem unverrückbaren Kern der Wahlrechtsgleichheit ableitet“.

Weiterhin ist Art. 70 Abs. 2 S. 2 VvB mit dem in Art. 21 GG verankerten Grundsatz der Chancengleichheit der politischen Parteien vereinbar. Nach Ansicht des Gerichts ist der Grundsatz der Chancengleichheit unmittelbar Bestandteil der Landesverfassung und nimmt daher den gleichen Rang ein wie das übrige Landesverfassungsrecht. Ein Verstoß gegen den Grundsatz ist bereits deshalb ausgeschlossen, da er gegenüber Art. 70 Abs. 2 S. 2 VvB keine ranghöhere Maßstabsnorm darstellt.

Ein Verstoß gegen die Gleichheit der Wahl nach Art. 28 GG scheidet nach Ansicht des Gerichts bereits deshalb aus, da Berlin eine Einheitsgemeinde darstellt, die Bezirke nicht Träger des Rechts auf kommunale Selbstverwaltung sind und sich deshalb nicht auf Art. 28 GG berufen können.

Kritik: Der Verfassungsrang des Art. 70 Abs. 2 S. 2 VvB führt nach der Mehrheit der Verfassungsrichter dazu, dass eine verfassungsrechtliche Überprüfung der in der Norm festgelegten Sperrklausel nur eingeschränkt möglich ist. Damit wird dem Verfassungsgesetzgeber die Möglichkeit gegeben, allein aufgrund abstrakter Gefahren Sperrklauseln auf kommunaler Ebene in die Verfassung einzuführen und die wesentlich strengeren Anforderungen an einfachgesetzliche Wahlbeschränkungen zu umgehen.
Dies führt dazu, dass der nach mittlerweile übereinstimmender Meinung innerhalb der Länder- und Bundesverfassungsgerichtsbarkeit geforderte spezifische Begründungszwang für die Einführung von Sperrklauseln aufgehoben wird. Der Verfassungsgerichtshof hat damit den Weg für eine Renaissance von Sperrklauseln im Bezirks- und Kommunalwahlrecht geebnet. Der Begründungsaufwand für eine „Verfassungslösung“ in diesem Kontext hält sich für die etablierten Parteien – für die Sperrklauseln günstig sind- danach in überschaubaren Grenzen.
Problematisch ist in diesem Zusammenhang die Einschätzung des Gerichts, der Grundsatz der Wahlrechtsgleichheit gehöre nicht zu den Grundsatzentscheidungen der Verfassung. Naheliegend wäre vielmehr die Annahme, die in Art. 70 Abs. 1 S. 1 VvB konstituierte Wahlrechtsgleichheit sei elementarer Bestandteil des Demokratieprinzips ist. Damit wäre der Grundsatz der Wahlrechtsgleichheit gegenüber Einschränkungen auch dann höherrangig, wenn diese in der Verfassung selbst erfolgen (vgl. Sondervotum des Verfassungsrichter Dr. Rueß, VerfGH Berlin, 13.05.2013 – VerfGH 155/11, S. 19 ff.)

Daneben ist fragwürdig, ob die Einschränkung der Wahlrechtsgleichheit durch die Sperrklausel gerechtfertigt ist. Nach dem Bundesverfassungsgericht bedarf es als Rechtfertigungsgrund eines „zwingenden Grundes“, um den eng bemessenen Spielraum für Differenzierungen bei der Ordnung des Wahlrechts zu entsprechen. Die „verfassungsrechtliche Messlatte“ im Hinblick auf die Wahlrechtsgleichheit für die Einführung einer in der Verfassung abgesicherten Sperrklausel fällt nach dem Urteil des VerfGH faktisch „von 100 auf Null“.

Die Annahme, die Funktionsfähigkeit der Bezirksverordnetenversammlungen sei – auch nur ansatzweise – eingeschränkt, hat sich im Wahlprüfungsverfahren nicht bestätigt. Weder die Senatsverwaltung noch andere beteiligte Akteure (BVV-Fraktionen u.a.) konnten insoweit konkrete Angaben machen. Eine Fragmentierung innerhalb der Bezirksverordnetenversammlung bleibt insoweit ausgeschlossen. So lange die etablierten Parteien unangefochten im Abgeordnetenhaus über entsprechende Mehrheiten verfügen, wird sich gleichwohl nichts am Bestand der Sperrklausel ändern.

Apropos Abgeordnetenhaus: Die 5-Prozent-Sperrklausel auf Landes- und Bundesebene ist verfassungsrechtlich bis auf Weiteres wohl nicht zu erschüttern. Zumindest für die Landesebene ist das aufgrund des politik- wie auch rechtswissenschaftlich nachgewiesenen Bedeutungs- und Kompetenzverlusts in den letzten 30 Jahren (die eigentliche Macht hat sich auf die Zustimmungsrechte der Landesregierungen im Bundesrat verlagert) zwar kaum noch nachzuvollziehen. Allerdings steht dieser Erkenntnis einstweilen noch das politische Gewohnheitsrecht der zwischen 1945 und 1979 in der alten Bundesrepublik gegründeten Parteien entgegen.

Nähere Informationen zu dem Wahlprüfungsverfahren, insbesondere das Urteil im Volltext und die verfahrensleitenden Schriftsätze, finden Sie unter
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